Istanbul+5 Bericht 

Vorläufige deutsche Arbeitsfassung

3.2. Soziale Stadtentwicklung


3.2 Soziale Stadtentwicklung

In den 90er Jahren ist die Verteilung der Einkommen in Deutschland immer ungleicher geworden. Die Schließung unrentabler Industrien und eine forcierte Rationalisierung der Unternehmen hat die Arbeitslosigkeit weiter steigen lassen. Durch die Tertiarisierung und den Aufstieg der Informationsindustrie sind vergleichsweise wenige hochbezahlte Jobs entstanden, gleichzeitig arbeiten immer mehr Menschen in schlecht abgesicherten und niedrig entlohnten Arbeitsverhältnissen. 

Die bestehenden Systeme der Arbeitslosen- und Sozialversicherung sind kaum noch in der Lage, diese Entwicklung abzufedern, obwohl auch Milliarden an Steuergeldern für Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe eingesetzt werden. Mehr und mehr setzen sich auch in Deutschland Politikkonzepte durch, die wachsende soziale Ungleichheit in Kauf nehmen und die Risiken von Erwerbslosigkeit, Krankheit und die Altersversorgung wieder dem Einzelnen aufbürden. Während die Zahl der Empfänger staatlicher Transferleistungen ständig zunimmt, werden die individuellen Hilfen immer weiter gekürzt. Eine diskriminierende Behandlung der Hilfeempfänger benachteiligt insbesondere AusländerInnen, ältere Arbeitslose und alleinerziehende Mütter. 

Durch diese gesamtgesellschaftliche Entwicklung wird auch eine sozialräumliche Polarisierung innerhalb der Städte und zwischen den Regionen gefördert. Das Einkommen und die Zukunftschancen der Bewohner alter Industriestandorte bleiben weit hinter denen der Wachstumsregionen zurück. Zugleich nimmt die soziale Spaltung innerhalb der Städte zu. 

Dabei ist die soziale Differenzierung der Wohngebiete auch in Deutschland nichts Neues. Schon lange gelten frühere "Arbeiterviertel", die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden und heute Teil der Innenstädte sind, als benachteiligt. Vor allem in Ostdeutschland, aber auch in den Großstädten des Westens gibt es noch viele dieser Altbauviertel mit unmodernisierter Bausubstanz und deutlich unterdurchschnittlicher Umweltqualität, obwohl die Stadterneuerung in der Bundesrepublik bereits seit Jahrzehnten gefördert wird. Aufgrund ihrer anonymen und monotonen Architektur, fehlender Nutzungsmischung und unzureichender sozialer Infrastruktur sind auch die großen Wohnsiedlungen aus der Nachkriegszeit zu Problemgebieten geworden. 

Die soziale Segregation hat sich in den 90er Jahren allerdings verschärft. Einerseits haben die Bewohner in vielen Innenstadtvierteln und Siedlungen des Sozialen Wohnungsbaus durch den wirtschaftlichen Strukturwandel und die Krise des Sozialstaats einen kollektiven Abstieg erfahren. Andererseits kommt es zu einer sozialen Entmischung der Quartiere durch selektive Wanderungsbewegungen: Gut verdienende Mittelschichtsfamilien kehren innerstädtischen Stadtteilen und Großsiedlungen den Rücken und werden dabei durch Steuernachlässe und staatliche Eigenheimzulagen noch gefördert. 

Zwar gibt es durchaus Bemühungen, durch die Kombination von staatlich gefördertem und frei finanziertem Wohnungsbau eine soziale Mischung in "neuen Vorstädten" zu erreichen. Ganz überwiegend entstehen neue Wohnungen aber in Einfamilienhaussiedlungen im Umland der Städte. Diese Entwicklung bringt nicht nur ökologische Zerstörungen mit sich, sie unterminiert auch die gemeinsame soziale und kulturelle Basis der Städte und Gemeinden. Dabei wird die räumliche Absonderung der Haushalte mit gesichertem Einkommen eher selten problematisiert. 

Wenn von "sozialer Stadtentwicklung" gesprochen wird, ist fast immer von den genannten "Problemgebieten" die Rede. Die Deregulierung des Wohnungsmarkts, der scharfe Rückgang des sozialen Wohnungsbaus und der zunehmende Ausverkauf von früher als gemeinnützig definierten Wohnungsbeständen aus dem Besitz der Kommunen und der inzwischen privatisierten Eisenbahn fördern die Konzentration armer oder sozial diskriminierter Haushalte in Stadtteilen, die für private Investitionen unattraktiv sind. So entstehen in vielen Städten Räume, in denen ein Klima der Perspektivlosigkeit und Benachteiligung herrscht. Vor allem Sozialhilfeempfänger, Aussiedler und andere Migranten sind von dieser Marginalisierung betroffen. Neben Mängeln der Wohnraumversorgung und des Wohnumfelds bieten sich ihnen auch schlechtere Bildungschancen. 

Schon seit nunmehr 30 Jahren gibt es in der Bundesrepublik eine konzertierte Städtebauförderung des Bundes, der Länder und der Gemeinden, die mit der baulichen Erneuerung der Städte auch soziale Zielsetzungen verfolgt. Am Anfang herrschten hierbei autoritäre Vorstellungen, welche die Strategie verfolgten, "rückständige Viertel" durch moderne Siedlungen zu ersetzen. Nach Protesten der betroffenen Bürger und wachsender Kritik an der Zerstörung der "alten Stadt" hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass sich soziale Verbesserungen nur bei einer schrittweisen Erneuerung der Bausubstanz erreichen lassen, die auch die gewachsenen Sozialstrukturen respektiert. Zu diesem Zweck wurden Bürgerbeteiligung und Sozialplanverfahren gesetzlich vorgeschrieben. 

Solange der Staat die bauliche Modernisierung von Mietwohnungen stark gefördert und die Mieten niedrig gehalten hat, ging von der sog. "Sanierung" eine sozial homogenisierende Wirkung aus. Seit dem Ende der 80er Jahre zieht sich der Staat aber immer weiter aus dem Wohnungssektor zurück. Frühere flächendeckende Strategien gelten als nicht mehr finanzierbar und während die bauliche Erneuerung zunehmend privat finanziert wird, konzentrieren sich die Kommunen auf begleitende Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur, zur Wirtschaftsförderung und zur Ordnung des Verkehrs. Da die staatlichen Maßnahmen zur Stadterneuerung marktkonform sein sollen, entwickeln sich auch in der Innenstadt aufgewertete Wohnquartiere für Besserverdienende und Wohngebiete der Unterschicht auseinander. 

In den 90er Jahren haben verschiedene Bundesländer quartiersbezogene Handlungskonzepte entwickelt, um benachteiligte Stadtteile zu stabilisieren. Nach dem letzten Regierungswechsel hat das Bundesbauministerium 1999 unter dem Titel "Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - die soziale Stadt" ein neues Förderprogramm mit einem jährlichen Volumen von 300 Mio. DM aufgelegt, mit dem die unterschiedlichen Ansätze vor Ort unterstützt werden. Baulich-räumliche, sozial- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen der Verwaltung sollen hierbei gebündelt; neue Kooperationen zwischen öffentlichen und privaten Akteuren sowie lokalen Initiativen gefördert; und die Beteiligungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten der Bewohnerschaft bei den Planungen, die das Quartier betreffen, gestärkt werden. 

In vielen Stadtteilen wurden privatwirtschaftlich arbeitende "Quartiersmanager" eingesetzt, die eine Brücke zwischen Bewohnern, Gewerbetreibenden und Initiativen auf der einen und den verschiedenen Ressorts der Verwaltung auf der anderen Seite schlagen sollen. Finanziert wurden zunächst vor allem Maßnahmen zur Wohnumfeldverbesserung, Freizeiteinrichtungen für Jugendliche, interkulturelle Projekte, Begegnungsstätten für Senioren sowie neue, initiierende Beteiligungsverfahren und Bürgerbeiräte. Konkrete Projekte zur "Armutsbekämpfung" und neue Arbeitsplätze in kommunalen oder staatlich subventionierten Betrieben sind dagegen eher die Ausnahme. Auch die im Nationalbericht der Bundesregierung genannten "Tauschringe" und "Sozialkaufhäuser" sind in Wirklichkeit äußerst selten und meist unabhängig von dem genannten Programm entstanden.

Grundsätzlich ist der Ansatz des Bund-Länder-Programms zu begrüßen. Die politisch Verantwortlichen haben gelernt, dass bauliche Investitionen nicht ausreichen, um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Endlich nimmt man einen neuen Anlauf, die Arbeit der Verwaltung an den konkreten Problemen der Stadtteile auszurichten, und animiert die einzelnen Ressorts zur Zusammenarbeit. Vor allem aber bieten sich neue Möglichkeiten der Selbstbestimmung, da viele Projekte auf Initiative der Bürger zustande kommen. 

Dennoch muss man die offizielle Darstellung dieser Maßnahmen im Nationalbericht Istanbul +5 kritisieren. Deutschland ist noch nicht auf dem Weg zu einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung, die auch nach sozialer Kohärenz verlangt. Die Mittel, die hierfür aufgewendet werden, sind ganz unzureichend und der übermächtige Trend zum Sozialabbau konterkariert die lokalen Anstrengungen. Auch viele der beteiligten Planer und Politiker gestehen ein, dass eigentlich sehr viel mehr Stadtteile eine ähnliche Förderung nötig hätten. Wie die positiven Erfahrungen, die in den geförderten Gebieten durch einen konzentrierten Mitteleinsatz ermöglicht werden, auf alle relevanten Stadtteile übertragen werden könnten, bleibt unklar. 

Die wichtigste Kritik richtet sich deshalb gegen die fehlende gesamtstädtische Sichtweise auf die soziale Stadtentwicklung. Während in einigen Wohnquartieren punktuelle Verbesserungen gefördert werden, überlässt der Staat die Wohnraumversorgung von ökonomisch schwachen Haushalten in zunehmendem Maße dem Immobilienmarkt. Gleichzeitig gibt es auch weiterhin massive staatliche Anreize für die Eigentumsbildung, so dass sich die soziale Polarisierung der Städte insgesamt weiter verstärken muss. Die Frage nach einem sozialen Ausgleich zwischen benachteiligten und reichen Stadtquartieren wird nicht einmal diskutiert. 

Schließlich verweisen die Probleme, die sich in den benachteiligten Gebieten bündeln und die Lösungen, die hier vorgeschlagen werden, auf ungelöste Grundkonflikte der Gesellschaft. Viele Stadtteile, die man als "soziale Brennpunkte" ausgemacht hat, weisen einen sehr hohen Ausländeranteil auf. Die Herausbildung ethnisch geprägter "Ghettos" ist eine Folge von Diskriminierungen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, die von der Einschränkung politischer Rechte und einer kulturellen Ausgrenzung aus der Mehrheitsgesellschaft begleitet wird. Frühere Gastarbeiter und ihre Angehörigen sind von der wachsenden Arbeitslosigkeit stark überproportional betroffen. Jüngere Untersuchungen belegen, dass ihre Kinder im Durchschnitt deutlich niedrigere Schulabschlüsse erreichen und auch in der Berufsausbildung gegenüber deutschen Jugendlichen unterrepräsentiert sind. Da die Mehrzahl aus der Türkei und anderen Nicht-EU-Staaten stammt, genießen sie selbst auf kommunaler Ebene kein Wahlrecht. Asylbewerbern und Kriegsflüchtlingen bleibt sogar die Arbeitserlaubnis versagt. Die Einsicht, dass Deutschland längst zum Einwanderungsland geworden ist, setzt sich in der Bundesrepublik nur gegen sehr große Widerstände durch. 

Wenn man die Entwicklung benachteiligter Stadtteile ernsthaft fördern und eine weitere Desintegration der Gesellschaft verhindern will, müssen sehr schnell Voraussetzungen für eine gleichberechtigte politische Beteiligung der MigrantInnen geschaffen werden. Außerdem müssen ausländerrechtliche Hindernisse für die Unternehmensgründung von Zuwanderern abgeschafft und besondere Anstrengungen für die Bildung der ausländischen Jugendlichen unternommen werden. 

Als wichtigste Ressource zur Entwicklung der Quartiere, die von Armut geprägt sind, gilt allgemein die Aktivierung und Förderung der endogenen Potentiale der BewohnerInnen. Die staatliche Förderung bürgerschaftlichen Engagements kennt dabei sowohl emanzipative als auch ausgesprochen repressive Spielarten. An vielen Orten werden lokale Initiativen und soziale Dienste, die von den Bewohnern selbst organisiert werden, kurz: Hilfe zur Selbst-Hilfe, unterstützt. Gleichzeitig wird die Gewährung staatlicher Unterstützung aber zunehmend an Bedingungen geknüpft. In Berlin z.B. werden Sozialhilfeempfänger unter dem Vorwand der "Integration durch Arbeit" auch zu unterbezahlten Tätigkeiten zur Verbesserung des Wohnumfelds verpflichtet. Daneben gibt es Beratungs- und Kreditangebote, die Arbeitslosen den Weg in die Selbständigkeit ebnen sollen. Teilweise verfolgt man auch Konzepte der Lokalen Ökonomie: Dabei werden Kleinunternehmen mit Quartiersbezug zunächst subventioniert, sollen sich auf lange Sicht aber wirtschaftlich selbst tragen. 

Generell sucht man nach Auswegen aus der Krise der westlichen Arbeitsgesellschaft, die keine erneute Erhöhung der Staatsquote nötig machen. Dabei wird meist übersehen, dass ehrenamtliche Tätigkeiten eine materielle Grundsicherung voraussetzen und dass auch eine lokale Ökonomie nur entstehen kann, wo genügend Kaufkraft vorhanden ist, um soziale Dienstleistungen - vom Einkaufsservice für RentnerInnen bis zur Hausaufgabenbetreuung für Kinder - bezahlen zu können. Neoliberale Theoretiker unterbreiten vage Vorschläge für die Einführung eines "Bürgergeldes", mit dem gemeinnützige Tätigkeiten belohnt werden sollen. Die radikalen sozialpolitischen Ideen ihres Vordenkers Milton Friedman bleiben indessen Tabu: Eine effektive Bekämpfung der Armut innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft könnte nur funktionieren, wenn an Bürger, die weniger als das Existenzminimum verdienen, eine "negative Einkommenssteuer" ausgezahlt wird, die sie in die Lage versetzt, ihre Bedürfnisse auf dem Markt selbst zu befriedigen. 

Gerhard Kienast

 


Initiative Habitat in NRW

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