Istanbul+5 Bericht 

Vorläufige deutsche Arbeitsfassung

3.1. Zersiedlung


3.Nachhaltige Siedlungsentwicklung 

 

3.1. Flächenverbrauch und Zersiedlungstendenzen 

Ausgangssituation 

Die städtebaulichen Leitbilder der "Kompakten Stadt" und der "Dezentralen Konzentration gehen noch immer von einem weiteren Wachstum aus. Die Möglichkeit sich eventuell auch wieder aus einem Gebiet zurückzuziehen, wird nicht in Erwägung gezogen. Im Gegenteil soll eine Entleerung peripherer Räume verhindert und der Status Quo gesichert werden. Es kann also im Ergebnis nicht von einem Ende, sondern höchstens von einem Abbremsen bzw. einer Verwaltung der Zersiedelung die Rede sein. 

Bis zur Wiedervereinigung 1989 hatten sich Ost- und Westdeutschland in zwei völlig unterschiedliche Richtungen entwickelt. Ostdeutschland war durch eine restriktive Siedlungspolitik gekennzeichnet, die städtische Entwicklung auf die großen Städte und ausgewählte kleinere Siedlungsschwerpunkte beschränkte. Standorte für städtisches Wachstum wurden entsprechend der industriellen Produktion festgelegt. Städtische Entwicklung war also immer Teil eines Plans und kein eigenständiger Prozess und Gemeinden war es nicht möglich, selbstständig Bauland auszuweisen. Westdeutschland entwickelte sich in die entgegengesetzte Richtung. Ähnlich wie andere westeuropäische Länder war es durch eine kontinuierliche Suburbanisierung gekennzeichnet, die zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung bereits Gegenstand kritischer Auseinandersetzung war.

Deutlich werden diese unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, wenn man sich das Verhältnis zwischen Städten und ihrem Umland ansieht. Im Gegensatz zu Großstadtregionen im Westen verfügen Städte im Osten noch immer über klare Kanten sowie einem deutlich ausgeprägten Gefälle in der Bevölkerungsdichte zwischen Stadt und Umland. Mit der Wiedervereinigung begann jedoch in den neuen Ländern ein dramatischer Nachholeffekt, der bis heute anhält, auch wenn sich das Tempo in den letzten Jahren verringert hat. 

Veränderungen in der Siedlungsentwicklung 

Seit 1989 haben nahezu alle größeren Städte Ostdeutschlands einen kontinuierlichen Bevölkerungsverlust zu verzeichnen. Abgesehen von einer sinkenden Geburtenrate finden verschiedene Wanderungsprozesse statt, die den negativen Effekt der Bevölkerungsentwicklung weiter verstärken. Als Haupttendenzen sind eine klassische Suburbanisierung auf der einen Seite und eine Abwanderung in die alten Länder auf der anderen Seite zu erkennen. Beide Entwicklungen lassen sich auf Vorhandensein oder Fehlen von Arbeitsplätzen zurückführen, Suburbanisierung als spontane Realisierung neuen Wohlstands, die einem gutbezahlten Job folgt und Abwanderung in die alten Länder als Reaktion auf das Fehlen von Jobs und damit einer negativen Prognose für das bisherige räumliche Umfeld. 

Damit einher ging eine Art Verstädterungsprozess unter suburbanen Bedingungen. Bedingt durch verschiedene Ursachen wie mangelnde Abstimmung zwischen den Gemeinden, interkommunalen Interessengegensätzen und fehlenden rechtlichen Vereinbarungen kam es seit Beginn der 90er Jahre zu einem mehr oder weniger unkontrollierten Wachstum. Zahlreiche Gemeinden in unmittelbarer Umgebung größerer Städte begannen konkurrierend Bauland auszuweisen, in der Hoffnung neue Investoren zu gewinnen und somit steuerliche Einnahmen zu erzielen. Auf der grünen Wiese wurden in kürzester Zeit neue Siedlungen realisiert, ohne die Belange regionaler Entwicklung zu berücksichtigen. Zunehmende Mobilität in Form von Autobesitz und die rasche Wiederherstellung von Straßen und Autobahnen förderte zusätzlich die Entwicklung von dezentralen Siedlungen unabhängig von existierenden städtischen Strukturen und dem öffentlichen Nahverkehr. Dies führte zu einer zunehmenden räumlich-funktionalen Entmischung von Wohnen, Einzelhandel und Gewerbe. Mit der Einführung neuer großmaßstäblicher Einkaufszentren verloren traditionelle Hauptstraßen in Städten und Dörfern ihre Bedeutung und ökonomische Lebensfähigkeit. 

Diese Entwicklung wurde durch großzügige staatliche Förderprogramme weiter beschleunigt. Diese sollten den Markt beleben und somit die Wirtschaft ankurbeln aber das Interesse der Investoren richtete sich hauptsächlich auf Steuerersparnisse. Die Folge war eine Bautätigkeit bei der die Standortfrage nur nachrangig behandelt wurde. In der Konsequenz kam es zu einem unkontrollierten Wachstum und einer Überproduktion von Wohnraum. Die wirklichen Bedürfnisse waren entweder ignoriert oder überschätzt worden. Dies hat zu der eigentümlichen Situation geführt, dass es zahlreiche neue Gebäude an Orten stehen, die kaum zu erreichen sind und zahlreiche heruntergekommene Häuser die Zentren von Städten und Dörfern bestimmen. 

Aufgrund des so entstandenen Überangebots neuentwickelter Flächen fiel jeder Anreiz weg, innerstädtische Brachen zu entwickeln. Unter den Bedingungen der Förderprogramme war es wirtschaftlich lukrativer, in neue Gebäude zu investieren anstatt sich um den Bestand zu kümmern. Die Errichtung neuer Gebäude wurde mit ökonomischer Entwicklung gleichgesetzt und konnte daher bis in die Mitte der 90er Jahre politisch nicht in Frage gestellt werden. Unter dem Diktat des Wachstums wurden die mehreren hundert tausend leerer Wohnungen, die bereits zu DDR-Zeiten existierten, schlicht ignoriert. 

Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung fordert die Wohnungsbauindustrie nun von der Regierung die Finanzierung großmaßstäblicher Abrissprogramme, um den Wohnungsmarkt "zu stabilisieren". Nach einem Bericht zur Wohnungssituation in den neuen Ländern müssten dazu in den nächsten Jahren allein 350.000 Wohnungen abgerissen werden. 

Gründe für die Suburbanisierung 

Wenn man die Entwicklung in deutschen Städten betrachtet wird deutlich, dass die Menschen aus den Stadtkernen wegziehen aber nicht ohne die Städte leben wollen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich das Bevölkerungswachstum in den peripheren Zonen der Städte konzentriert. Vergleicht man die Motive der Menschen, die wegziehen mit den politischen und planerischen Maßnahmen, die von den Städten gegen diese Entwicklung unternommen werden, so wird offensichtlich, dass diese an den Bedürfnissen der Menschen vorbeigehen. Obwohl es bereits seit Jahren eine kontinuierliche Wanderung aus den Städten in die Vororte gibt, ist das Ziel der Menschen vielleicht nicht der Vorort als solcher sondern vielmehr die besseren Bedingungen, die dort zu haben sind. 

Der Schritt, die Stadt zu verlassen, muss als eine Entscheidung gesehen werden, die auf der Abwägung von Vor- und Nachteilen basiert und positiv zugunsten des Vororts gefällt wird. Studien, die Interviews mit an Eigentum interessierten Menschen durchgeführt haben, kamen zu dem Ergebnis, dass die Mehrzahl der Befragten die Vororte als zweitbeste Wahl betrachten. Wichtige Kriterien für die Entscheidung waren neben der erhältlichen Wohnform, der Preisunterschied und die "bessere" Nachbarschaft. 

In Anbetracht des stetigen Bevölkerungsverlusts in die Vororte nehmen viele ostdeutsche Städte eine ambivalente Haltung zur Suburbanisierung ein. Auf der einen Seite proklamieren viele Gemeinden das Leitbild der "kompakten Stadt". Mit mehrgeschossigen Wohnblocks, harten Kanten und städtischer Dichte, soll dabei eine urbane Atmosphäre geschaffen werden, welche die Bedürfnisse des Stadtbewohners nach individuell nutzbarem Freiraum jedoch weitgehend ignoriert. Auf der anderen Seite wiederholen viele Städte die Strategie der Vorortgemeinden, indem sie auf dem eigenen Stadtgebiet suburbane Wohnformen ansiedeln, in der Hoffnung Steuerzahler in der Stadt zu halten. Der vielbeschworene urbane Charakter, das mit dem die Stadt eigentliche werben will, wird dadurch jedoch weiter ausgehöhlt. Neue Wohnformen, die möglicherweise Elemente urbaner und suburbaner Siedlungsformen verbinden könnten, sind bisher kaum Gegenstand der Betrachtungen. 

Brachgefallene Industrieflächen könnten viel Raum für solch eine mögliche Neuentwicklung bieten, aber hier stellen die Kosten eine schwer zu nehmende Hürde dar. So lange kleinere Nachbargemeinden relativ einfach Bauland auf der grünen Wiese ausweisen können, wird die Reaktivierung von Industriebrachen gerade in den ostdeutschen Städten zu teuer bleiben. Eine Folge davon ist, dass selbst schrumpfende Städte in den neuen Ländern in der Fläche weiter wachsen. Kommunales Flächenmanagement kann hier nur auf regionaler Ebene Erfolg versprechend sein. 

Zukünftige Entwicklungen 

Die städtischen Visionen der "kompakten Stadt" und der "dezentralen Konzentration", die im deutschen "Nationalbericht zu Istanbul +5" angesprochen werden, beziehen sich noch immer auf traditionelle Bilder der Stadt. Für die meisten Stadtbewohner heutzutage haben die Verwaltungsgrenzen der Städte jedoch ihre Bedeutung verloren. Nur noch wenige wissen wahrscheinlich überhaupt, wo diese Grenzen exakt verlaufen. 

Betrachtet man die Siedlungsentwicklung in Deutschland innerhalb der letzten Jahren, fällt auf, dass sich die wirtschaftliche und physische Einflusssphäre von den traditionellen Stadtzentren auf die peripheren Bereiche ausgedehnt hat. Zunehmende Mobilität und moderne Medien haben uns in die Lage versetzt, ein immer größeres Gebiet zu bewohnen und zu nutzen. Die Regionen zwischen prosperierenden Städten haben sich in den letzten Jahren zu den Hauptwachstumszonen entwickelt. 

Folglich scheint es angezeigt, neue Formen der Verwaltung zu entwickeln, die sich auf die tatsächlich vorhandene städtische Landschaft beziehen. Vergleicht man gegenwärtige Politik mit den Prognosen verschiedener Studien, die innerhalb der letzten Jahre publiziert wurden, so gibt es keine Anzeichen dafür, dass sich die Entwicklung des Flächenverbrauchs in den nächsten Jahren groß verändern wird. Die Zeichen stehen nach wie vor auf Wachstum. 

Das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung wird nach wie vor durch politische Entscheidungen in Frage gestellt, die de facto eine weitere Dezentralisierung von Siedlungsflächen fördern (als Beispiel genannt seien die Kilometerpauschale oder die Eigentumsförderung). Bisher basiert die Bundespolitik immer noch auf einem Status quo Ansatz. Der Ruf nach gleichen Lebensverhältnissen in allen Teilen des Landes wurde hauptsächlich als Aufforderung interpretiert, die Quote des Flächenverbrauchs und der Versiegelung in Ostdeutschland in kürzester Zeit auf das Niveau des Westens zu befördern. 

Betrachtet man die Wanderungsprozesse in Deutschland in einer Gesamtperspektive, so wird deutlich, dass bestimmte Gebiete langfristig wachsen und andere schrumpfen. Im Gegensatz zum politischen Leitbild tendieren die Menschen offenbar nicht dazu, sich überall gleichmäßig anzusiedeln. Bisher wurde dies vor allem als negative Entwicklung betrachtet, der es zu begegnen galt. Aber wieso sollte man nicht dieser Dynamik folgen und die Gebiete, aus denen sich die Menschen zurückziehen, entsiegeln?

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